Systemische Lehr-Gschichtln

BRILLEN UND ANDERE WIRKLICHKEITEN


Aus: Lehr Bernhard: dramulettes systemiques, unveröffentlichte Manuskripte
Gucki: Ach wenn ich das alles noch genau wüsste, was ich schon gehört habe über das Entstehen von Wirklichkeiten, dann hätte ich wenigstens die Gewissheit ein wenig näher der Wirklichkeit zu sein. Aber so weiß ich vieles nicht, vieles nicht mehr, oder ich weiß auch nicht, was ich eigentlich weiß.
Bryn: Na sind wir heute depressiv?
Gucki: Es ärgert mich eben, dass ich mir schwer tu zu erzählen, wie das mit den Brillen und den Wirklichkeiten ist.
Glasl: Griaß euch! Was höre ich? Ärger? Depression? in so einem Fall, wenn ich glaube, ich kann gar nichts mehr, frustriert bin bis ins Knochenmark, lege ich seit Neuestem die "Als ob Strategie" an: Ich tu so als sei es anders, ich tu so als sei ich nicht depressiv, nicht verärgert, nicht dumm und fang mit irgendwas an.
Bryn: Na dann: Tun wir so als ob wir alles wüssten.
Gucki: Ich glaub es geht nicht um alles wissen. Es gefällt mir ganz gut, einfach anzufangen. Weißt du, was mir gestern passiert ist?
Glasl: Du bist gut, wie soll ich das wissen? Ein typisches Beispiel, dass man nicht alles wissen kann! Aber du wirst es mir bald sagen, nehme ich an.
Gucki: Ich habe gestern ein Vexierbild betrachtet, es wurde im Fernsehen gezeigt, weiß nicht mehr bei welcher Sendung, es sollte eine junge und eine alte Frau zu sehen sein. Stell dir vor, ich habe das Bild von Früher gekannt, du weißt, es gibt so Vexierbilder, die sind in vielen Journalen und so zu sehen, ein so bekanntes ist jenes. Ich konnte die junge Frau nicht mehr erkennen. Ich sah die alte und die alte und nur die alte, obwohl ich wüsste, wie die junge auszusehen hätte, ich hab sie nicht gefunden! Und gleichzeitig schreit mein Sohn durch die Gegend: "Ich sehe nur die junge Frau! Wo ist die alte?" Ich hab meine junge jedenfalls nicht mehr erblickt.
Eigentlich hätte ich damit gerechnet, dass ich sie erkennen müsste, weil ich ja eine Vorstellung habe, wie und wo ungefähr ich sie finden könnte. Denn man sagt ja, dass wir eher nur das sehen und erkennen, was wir eben kennen. Aber hier war ich sehr fixiert auf die Alte.
Bryn: Vielleicht sollten wir das Vexierbild auf Fixierbild umbenennen.
Gucki (lacht): Ja vielleicht. (wird wieder ernst) Es ist doch immer wieder verblüffend, für mich jedenfalls, wie fixiert wir Menschen sein können. Nicht nur beim Sehen, auch so beim Wahrnehmen und Denken.
Weil du vorhin das Wort "depressiv" erwähnt hast. Wie verstärkend so ein Begriff doch wirken kann. Wenn ich ihn ernst nehmen würde, ginge es mir schon ganz schlecht. Ich konnte einmal einem Klienten helfen, indem wir für seine Krankheit Depression einen anderen Namen, eigentlich viele andere Namen fanden, ich müsste sagen er-fanden: er habe sich vergiftet, weil er sich so viel "gegiftet", ein anderes Wort für geärgert, hat, er habe sich überfordert und wolle etwas Neues, er sei erschöpft und brauche eine Pause, usw.
Glasl: Jaja, wie nennt schon Herr De Shazer ein Buch? "Worte waren ursprünglich Zauber", die Sprache kann uns sehr binden und unsere Gedanken beeinflussen, bzw. auch unser Tun natürlich.
Wisst ihr, was mir so durch den Kopf geistert?
Bryn: Natürlich nicht, wie sollten wir auch, aber um in deinen Worten zu sprechen: Du wirst es uns bald mitteilen,
Glasl (lacht): Richtig. Hab gehofft, dass dieser Satz kommt. Und ich sag es dir auch:
Im Ludwig Boltzmann Institut in Frankfurt gibt es einen Herrn Professor, dessen Name mir jetzt nicht einfällt, der sich mit Gehirnforschung beschäftigt. In einigen Zeitungen war auch davon zu lesen, unter anderem im Bild der Wissenschaft vor zirka einem halben Jahr. Der behauptet aufgrund seiner Forschungen, dass unser Bewusstsein über eine Handlung null Komma drei Sekunden nach dem jeweiligen Ablauf der einzelnen Bewegungen der Nerven und Muskeln zustande kommt.
Bryn: Waaaas? Nachdem ich jetzt so spontan "waaaas" plärrte, hätte ich nicht gewusst, dass ich "waaaas" plärre?
Gucki: Dieses "waaaaas" kannst du eh nicht überlegt haben, das war unbewusst, würde ich behaupten.
Aber was dieser Professor dann sagt, hieße, dass eigentlich alle Handlungen und auch Gedanken, nehme ich an, gewissermaßen "spontan" wären, in dem Sinne, dass sie nicht, zumindest nicht bis zuletzt und ins Detail, planbar sind, sondern nur nachvollziehbar. Ja bestenfalls nachvollziehbar.
Glasl: Ja. Ich tue etwas und kann bestenfalls ein Resultat bemerken. Natürlich bemerke ich dann auch nur, was für mich passt - im Sinne deines "Fixierbildes" und mach wieder weiter....
Bryn: Wie bei einer Maschine, gell?
Glasl: Naja, das Wort nimmt man nicht so gern in den Mund, wenn es um uns Menschen geht. Und ich glaube auch, dass es vielfältiger, komplexer ist. Die Systemiker reden gern von den "autopoietischen Systemen", Einheiten quasi, die sich selbst reduplizieren und aufrechterhalten. Eine Maschine ist da zu einfach - trivial sagen manche.
Gucki: Wie verändere ich mich dann laut diesem Professor, wenn ich nur reagiere und reagiere und bestenfalls feststelle, dass ich so und vielleicht so reagiere?
Glasl: Naja, ich würde das so sagen, um auf dein Vexierbild zurückzukommen, wir haben doch sehr, sehr viele Muster in unserem Repertoire und das, was wir wahrnehmen ist nicht nur eine junge und alte Frau, sodass aufgrund der Vielheit an Bewegung und Bildern Verschiedenstes bewusst werden kann, das dann weiterwirkt. Und wir stehen permanent in Wechselwirkung mit unsrer Umwelt, mit anderen Systemen, die uns auch zusetzen oder anregen oder wie immer wir das nennen mögen. Manche sagen stören, manche sogar penetrieren, was schon überklinisch klingt. Das Wort "jucken" fände ich witzig.
Gucki: Sei still, sonst fängt es mich zu jucken an! Dazu genügt mir das Wort alleine!
(kurze Pause)
So wie wir jetzt dahinreden. Jeder hat seine Gedanken. Die entwickeln sich: Ich sage das, du dies und daher er jenes und ich wieder fast das, was ich ursprünglich sagen wollte, aber vielleicht doch nicht ganz so, sondern in einer anderen Art.
Bryn: Jetzt brauchen wir nur mehr sagen: So ist das Leben. Und gehen heim.
Aber wie war das wieder mit den "Brillen"? Deshalb wollten wir uns doch treffen und reden.
Es gibt die Meinung, wir Menschen würden alles durch gewisse Brillen sehen.
Glasl: Für mich sind die Brillen nur mehr ein Hilfsausdruck
Gucki: Gibt es denn etwas anderes auch als Hilfsausdrücke?
Glasl: Sehr witzig!
Also gut: Es handelt sich wohl um eine andere Form der Erklärung dafür, dass manche Menschen in einer Verhaltensweise oder Szene oder auch nur in einem Bild nur ganz Bestimmtes wahrnehmen und nicht anderes, das andere Menschen wahrnehmen würden. Gleichsam als würden sie eine Brille einer besonderen Art oder gewisser Farbe tragen.
Gucki: Wow! Das hast du aber schön formuliert.
Bryn: Es gibt ja auch Menschen, die haben sogar so starke Brillen, dass nicht nur Systemiker vom "Brett vor dem Kopf" sprechen.
Was nehmen die eigentlich wahr?
Gucki: Die haben auf der ihnen zugewandten Seite des Brettes einen Film laufen, der gerade aus ihrem Hirn heraus projeziert wird, Heimkino quisiquasi. So einer haut dir eine runter, dass dir Hören und Sehen vergeht und behauptet, er hätte dich geliebt.
Glasl: Drastisch aber möglich.
Gucki: Was? Das Lieben oder das Vergehen von Hören und Sehen?
(winkt mit der Hand vor dem Gesicht)
Das ist mir nur so in der Schnelle eingefallen.
Glasl: Ich denke, die Erfahrung zu machen, dass es verschiedene Brillen gibt, die wir nutzen, ist äußerst wichtig. Aber wem sag ich das.
Es ist ja immer so leicht, auf die Brillen der anderen zu verweisen. So als wäre ich selbst kein Brillenträger, hätte so was nicht nötig, und wenn schon nach dieser Brillentheorie alle diese Dinger tragen, so würde ich die mit Fensterglas tragen.
Was ich sagen will: Jeder Vergleich hinkt. Das Bild von den Brillen könnte vermitteln, dass es die reine Sicht oder wenigstens eine genaue Datenübertragung und Wiedererkennung im Gehirn gäbe. Dem ist eben anders.
Unser Professor Boltzmann, oder wie er auch heißt, vermittelt uns eher, dass wir bei der "Wirklichkeit" mehr auf das Wirken achten sollen. Also ich wirke und werde gewirkt, manches wird bewusst und wirkt weiter, vieles merken wir nicht und wirkt genauso.
Bryn: Der Gedanke von der Sicherheit über gewisses Wissen, dass selbst dieser Gedanke fallen zu lassen ist, lässt mich nicht aus, juckt mich quasi.
Ich habe vor Kurzem in einem Buch über Zeitreisen gelesen, dass Einstein eine Formel entwickelt hat, die wohl über seine e ist m mal c quadrat hinaus geht. Die Formel kann ich nicht nennen, sie ist eine halbe Zeile lang mit vielen kleinen Buchstaben an den normal geschriebenen Buchstaben, in der Mitte ein Ist-gleich - Zeichen. Einstein wollte beweisen, dass es sich, wenn ein Gegenstand zu Boden fällt, nicht so verhält, dass der Gegenstand hinunterfällt, sondern dass das Untere dem Gegenstand entgegenkommt. Die Gravitation ist also nicht eine Kraft, die hinabzieht, sondern eine Bewegung, die entgegen kommt. Er hat acht Jahre gebraucht, um diese Idee, die alles auf den Kopf stellt, zu beweisen. Er hat die Formel gefunden. Und er konnte auch zwei Anomalien, Bahnabweichungen beim Merkur und noch eine, dadurch erklären. Der Autor erzählt, dass Einstein, als ihm die Sache gelungen war und der Beweis durch den Merkur sicher war, dass er Herzklopfen vor Freude gehabt habe. Das Ganze hängt irgendwie mit der Raumzeitkrümmung zusammen.
Gucki: Da krieg ich auch gleich Herzklopfen!
Bryn: Ja ich auch immer wieder. Und was mir dabei so gefällt, ist, dass selbst die Tatsache, dass etwas zu Boden fällt, ein Blick durch eine Brille ist.
Glasl: Wenn ich mir vorstelle, dass ich Einsteins Brille aufsetze, verdreht es mir nur bei dem Gedanken die Augenäpfel dreimal je Auge in und gegen den Uhrzeigersinn.
Aber gerade auch solche Sachen ermuntern mich, im Alltag oder Beruf ein wenig ver-rückter zu denken.
Gucki: Mir kommt eben das Bild, dass wir wie Blinde sind, die rundherum ein wenig die Gegend begreifen. Schön, wenn wir uns von den Ein-drücken ein wenig erzählen können, oder wir uns darunter etwas vorstellen können. Wenn ich mir vorstelle, dass ein Blinder einem Blinden von seinen Eindrücken erzählt, davon, was er begriffen hat. Der andere hat nur die Möglichkeit davon zu hören und sich ein Bild - wie kann ein Blinder sich ein Bild machen? - er macht sich eine Vorstellung von dessen Begriffenem. Vage, es bleibt so vieles vage.
Und nur weil wir sehen, glauben wir, wir könnten so leicht begreifen!
Bryn: Das sind ja wunderbare Wortspiele.
Aber eines scheint mir sehr wichtig: Dem Blinden nützt alleine wahrzunehmen wenig. Er muss sich äußern und er ist auf die Äußerung eines anderen angewiesen.
Gucki: Und wenn dann noch eine andere dazukommt (nicht nur wegen des Geschlechterverhältnisses) ...
Glasl: Und wenn sie nicht gestorben sind...
Gucki: Nein ich meine im Ernst, dass zur Reflexion oder Bewusstwerden von Verhalten oder überhaupt einfach zum Erkennen von dem was gerade rundherum sein könnte, drei mehr bringen als zwei, so wie ein Punkt im Raum auch drei Koordinaten braucht um seine Position zu vermitteln
Bryn: Und wieviel braucht es bei der Raumzeit?
Glasl: Ich glaub, ich brauch einen Frankfurter mit einem Kremser und dazu ein Zwettler

Gucki: Und ich möchte ein Brillenstudio errichten. Ich verleihe dann: Sicherheitsberaterbrillen, Flüchtlingsbrillen, Papstbrillen, Hausfrauenbrillen, Kinderbrillen der verschiedensten Art, Verliererbrillen, Chemikerbrillen,..
Glasl: Mit einer Hinduistenbrille siehst du sofort alles eingerahmt, wie ein alter Film. So stell ich mir das wenigstens vor, denn die sagen: Alles Maya, alles ist Schein
Bryn: Ein Blick durch die Brillen der Brillenschlange muss aufregend sein!



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